27.11.2020 – Alle Welt spricht von Klimaneutralität. Nicht so Prof. Dr. Michael Braungart, der mit dem von ihm mitentwickelten Cradle-to-Cradle-Ansatz „klimapositiv“ bauen möchte. Es müsse künftig um mehr gehen als nur um Schadstoffvermeidung und Abfallbeseitigung. Vielmehr sollen Gebäude nützlich für die Umwelt sein, indem sie etwa Luft und Wasser reinigen. „Die Intelligenz muss am Anfang liegen, in der Gestaltung! Nicht am Schluss, in der Abfallbeseitigung“, so Braungart. Im Interview erläutert der Chemiker und Verfahrenstechniker seinen Ansatz und wie Deutschland und Europa sich damit international profilieren können.
Es müsse künftig um mehr gehen als nur um Schadstoffvermeidung und Abfallbeseitigung. Vielmehr sollen Gebäude nützlich für die Umwelt sein, indem sie etwa Luft und Wasser reinigen. „Die Intelligenz muss am Anfang liegen, in der Gestaltung! Nicht am Schluss, in der Abfallbeseitigung“, so Braungart. Im Interview erläutert der Chemiker und Verfahrenstechniker seinen Ansatz und wie Deutschland und Europa sich damit international profilieren können.
Herr Professor Braungart, was bedeutet der Cradle-to-Cradle-Ansatz, den Sie mit dem amerikanischen Architekten William McDonough entwickelt haben?
Cradle to Cradle zeigt, wie Produkte tatsächlich wiederverwertet oder kompostiert werden können. Das heißt, die Dinge so zurückzudenken und zu gestalten, dass sie nützlich sind – entweder für die Biosphäre oder für die Technosphäre – und nicht weniger schädlich. Nicht klimaneutral sein, sondern klimapositiv!
Was heißt das übertragen auf den Baubereich?
Es geht nicht darum, das Gebäude gasdicht zu machen, um Energie zu sparen, sondern so, dass es reinigend ist. Wir können Gebäude bauen, die nützlich sind, in denen die Luft besser ist als draußen, die die Luft und das Wasser reinigen. Wir können Gebäude wie Bäume machen! Die Intelligenz muss am Anfang liegen, in der Gestaltung! Nicht am Schluss, in der Abfallbeseitigung. Dieses Prinzip, von der Wiege zur Wiege zu denken, ist für den Baubereich übrigens von besonderer Bedeutung. Denn mehr als die Hälfte aller Abfälle stehen mit Gebäuden in Verbindung.
Das klingt futuristisch.
Solche Häuser gibt es bereits, zum Beispiel die Stadtverwaltung in Venlo in den Niederlanden. Die Südfassade besteht aus Aluminium, das ohne Qualitätsverlust recycelt werden kann, die Nordfassade besteht innen aus Holz und außen aus einer Fassadenbegrünung, die die Luft reinigt. Die Luftqualität ist drinnen besser als draußen. Der Krankenstand ist dadurch um mehr als 20 Prozent verringert. Es lohnt sich einfach! Wir haben zudem ein ganzes Quartier in der Nähe von Amsterdam erschaffen, den Park 2020. Auch das neue Verwaltungsgebäude der RAG-Stiftung und der RAG-Aktiengesellschaft auf dem Welterbe Zollverein in Essen wurde nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip realisiert. In Düsseldorf wird derzeit mit „The Cradle“ ein Holzhybrid-Bürogebäude nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip gebaut.
Sie fordern, Gebäude aus den 1960er und 1970er Jahren wegzureißen. Warum?
Weil sie Menschen krank machen. In diesen Gebäuden sind zum Beispiel oftmals viele Holzschutzmittel wie Lindan und Pentachlorphenol enthalten. Außerdem haben wir ein massives Asbestproblem in diesen Gebäuden. Es gibt im Baubereich allgemein ein massives Qualitätsproblem. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man angefangen, gutes Handwerk durch schlechte Chemie zu ersetzen. Und das ist leider heute noch so.
Ich habe kürzlich 16 Kindergärten in einer mittelgroßen Stadt untersucht. Wenn deren Innenräume draußen wären, müssten sie alle stillgelegt werden, weil sie die Feinstaubgrenzwerte drastisch überschreiten. Die Luft drinnen ist drei- bis achtmal schlechter als die Außenluft.
Und die Chemikalien reichern sich in Lebewesen an. Von den 2800 Chemikalien, die ich in Muttermilch finde, ist etwa ein Drittel aus dem Baubereich. Mir geht es darum, viel bessere Gebäude zu machen. Ein Gebäude zu gestalten, das für Muttermilch geeignet ist, das wäre doch mal ein völlig neues Qualitätskriterium!
Sie sagen, es geht nicht darum, einfach das Gebäude gasdicht zu machen, um Energie zu sparen. Halten Sie also nichts von Dämmstoffen?
Die Energieseite ist im Verhältnis zur Materialseite überbewertet. Als erstes müsste ich fragen: Hat das Gebäude gesunde Luft? Und nicht: Wie kann ich Energie sparen? Die Vorschriften zur Dämmung sind nur eine Auswirkung von Lobbyinteressen; für die Sache, für die Umwelt, bringen sie eigentlich nichts.
Was spricht denn dagegen, Energie durch Dämmung zu sparen?
Ich habe in Wärmedämmverbundsystemen 27 Komponenten gezählt – das sind Bankrotterklärungen an gutes Bauen! Es gibt Wärmedämmung mit Fasern, die nicht gesund sein kann. Wenn aber Dämmung eine Dienstleistung wäre, dann könnte man viel bessere Materialien einsetzen. Es gibt eine ganze Reihe von mineralischen Dämmmaterialien, zum Beispiel geschäumtes Glas, was sich wirklich wunderbar eignet, was aber sonst zu teuer ist. Man muss die Nutzung des Glases verkaufen.
Wie meinen Sie das genau?
Im Moment wird immer das Kostengünstigste verwendet, anstatt das Beste einzusetzen. Wir müssen stattdessen das Wertgebende in den Dingen erhalten. Das Gebäude kann man als Materialbank betrachten. Wenn man die wertgebenden Gegenstände wie die Fassaden als Dienstleistung anbietet, dann werden die Immobilien deutlich kostengünstiger, weil die Leute sozusagen nur die Nutzung der Fassade kaufen. Ich kann Material über ein Finanzierungsmodell an jemand Dritten abgeben und zum Beispiel das Kupfer an eine Bank geben, die das Kupfer hält. Die Materialien, die nur genutzt werden, werden als Dienstleistung zur Verfügung gestellt. Eine Bank wird dadurch zur Rohmaterialbank. So könnte ich beispielsweise meinem Kind eine Tonne Rohzink, verbaut am World Trade Center, schenken.