Bei innerstädtischen Bauvorhaben hängt die Durchführbarkeit einer baulichen Maßnahme oft entscheidend von einer zeitweisen Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks ab. Insbesondere wenn die Baugrube durch grenzübergreifende Befestigungen gesichert werden muss oder Unterfangungsarbeiten notwendig werden, gibt es kaum wirtschaftlich vertretbare Alternativen zur vorübergehenden Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks. Das Interesse des Bauherrn an solchen Sicherungsmaßnahmen und das Interesse des Nachbarn, in seinem Eigentumsrecht nicht beeinträchtigt zu werden, stehen dabei in einem Spannungsverhältnis, das von der Rechtsprechung bislang grundsätzlich so gelöst wird, dass der Nachbar gegen Zahlung einer Entschädigung verpflichtet sein kann, Maßnahmen des Bauherrn zu dulden. Fraglich ist, wie Situationen zu behandeln sind, in denen der Nachbar dem Bauherrn einen Zugriff auf sein Grundstück ungerechtfertigt verweigert. Erleidet der Bauherr durch die Nichtduldung einen Schaden, sollte ihm ein Ersatzanspruch zugestanden werden. Dieser Beitrag möchte zur Weiterentwicklung der Diskussion anregen.
I. Pflicht des Nachbarn zur Duldung grenzübergreifender Maßnahmen
Im Rahmen grenzständiger Baudurchführung ist die nachbarrechtliche Situation ein entscheidender Faktor und muss bereits bei der Planung des Bauvorhabens bedacht werden. Der Eigentümer eines Grundstücks kann dieses grundsätzlich als Ausdruck der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 GG und gem. § 903 Satz 1 BGB in den Grenzen des öffentlichen Baurechts nach eigenem Belieben bebauen und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Bei einer grenzüberschreitenden Baugrubensicherung oder Unterfangung wird durch Ausübung des Eigentumsrechts des Bauherrn in das Eigentumsrecht des Nachbarn eingegriffen, sowohl durch Substanzeinwirkung als auch durch das dazu erforderliche Betreten des Nachbargrundstücks. Daher stellt sich zunächst die Frage, ob der Nachbar zur Duldung solcher Maßnahmen verpflichtet ist. Ein grundlegendes Urteil zu dieser Situation stammt aus dem Jahr 1993. Das OLG Stuttgart verurteilte einen Nachbarn zur Duldung der Rückverankerung einer Bohrpfahlwand gegen vorherige Sicherheitsleistung und Zug um Zug gegen Zahlung einer Entschädigung.1 Ebenso entschied zuletzt das OLG Köln bzgl. einer Rückverankerung zur Sicherung einer Unterfangung.2 Die Thematik weist eine hohe Praxisrelevanz auf, indes wird der Klageweg nur selten beschritten. Daher fehlt es an einer größeren Zahl gerichtlicher Entscheidungen und mithin auch an einer lebhafteren und ertragreicheren Diskussion der diesbezüglichen Fragen in Rechtsprechung und Literatur.
1. Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks durch Rückverankerung und Unterfangung
Die Errichtung einer Baugrube in dicht bebauten Innenstadtlagen erfordert in vielen Fällen Sicherungsmaßnahmen, um ein Abrutschen von Erdreich und daraus resultierende Schäden an grenznaher Nachbarbebauung zu verhindern. Die Sicherung erfolgt häufig durch einen Baugrubenverbau (z.B. Berliner Verbau oder Bohrpfahlwand). Wegen des Erddrucks, der vom benachbarten Grundstück auf den Verbau einwirkt, wird es häufig erforderlich sein, den Baugrubenverbau statisch zu sichern. Dies geschieht üblicherweise so, dass eine Rückverankerung eingebracht wird, mit der der Verbau im Grundstück des Nachbarn fixiert und so lagestabil gehalten wird. Die Rückverankerung dient der Sicherung des baulichen Zwischenstadiums der offenen Baugrube. Sobald der dort vorgesehene Baukörper errichtet und Zwischenräume wieder verfüllt sind, entfällt die Notwendigkeit der Sicherungsmaßnahmen. Der Verbau und die Rückverankerung werden funktionslos, wobei die Rückverankerung in der Regel im Baugrund des Nachbarn verbleibt. Wird dort später einmal gebaut, kann sie entfernt werden, weil sie keine technische Bedeutung mehr hat.
Eine weitere typische Situation, die die Notwendigkeit einer Inanspruchnahme des Grundstücks des Nachbarn erforderlich macht, kann sich ergeben, wenn ein grenzständiges Neubauvorhaben tiefer liegt, als das Fundament der schon an der Grenze vorhandenen Bestandsbebauung. Dann müssen die Fundamente des Nachbarn gesichert werden, damit sie durch die Baugrube nicht ihre Stabilität verlieren. Eine gängige Methode stellt hier die Einbringung einer sogenannten Unterfangung unterhalb der Fundamente des Nachbarn dar, die stabilisierend auf den Bestand des Nachbarn einwirkt und das Wegrutschen von Erdreich unterhalb des nachbarlichen Bestandes verhindert. Auch diese Maßnahme verliert ihre Funktion, sobald das Neubauvorhaben errichtet und die Baugrube wieder geschlossen ist. Wird auf dem Nachbargrundstück später einmal neu gebaut, kann die Unterfangung problemlos entfernt werden.
Andere Möglichkeiten der Baugrubensicherung sind dagegen deutlich zeit- und kostenintensiver und erschweren die Bauarbeiten erheblich.3 Wenn etwa die Verbauwände gegeneinander abgestützt werden müssen und zu diesem Zweck horizontale, quer durch die Baugrube verlaufende Metall-Streben angebracht werden, behindert dies die Arbeiten des Bauherrn evident, nicht zuletzt deshalb, weil dann die Nutzung von in der Grube umherfahrenden Maschinen unmöglich ist.
2. Rechtliche Herleitung der nachbarlichen Duldungspflicht
Nachbarbezogene Rechte und Pflichten sind nur teilweise positivgesetzlich normiert. Ein großer Teil des privaten Nachbarrechts ist richterrechtlich geprägt und fortentwickelt worden. Viele Regelungen des BGB finden über den Wortlaut hinaus entsprechende Anwendung. In einigen Bundesländern werden diese zudem durch länderspezifisches Nachbarrecht ergänzt.4
a) Rechtsgrundlagen für Duldungspflichten im BGB
Der Gesetzgeber hat das Konfliktpotential der grenzübergreifenden Eigentumsnutzung berücksichtigt und in den §§ 903 ff. BGB für mehrere Fallgestaltungen einen Interessenausgleich herbeigeführt. Ist eine grenzüberschreitende Einwirkung für die Ausübung des Eigentumsrechts erforderlich, ergeben sich für den Nachbarn Duldungspflichten, die bei wesentlicher Beeinträchtigung mit Ausgleichsansprüchen einhergehen.5 Nach § 905 Satz 2 BGB kann der Eigentümer Einwirkungen nicht verbieten, die in solcher Tiefe vorgenommen werden, dass er an der Ausschließung kein Interesse hat. Bezogen auf die hier interessierenden Fälle stellt sich die Frage, ob diese Konstellationen bereits über § 905 BGB im Sinne des Bauherrn gelöst werden können. Ab welcher Tiefe kein berechtigtes Abwehrinteresse des Nachbarn mehr besteht, lässt sich anhand von Einzelfallentscheidungen der bisherigen Rechtsprechung ermitteln. Das OLG Köln hält bzgl. Stahlankern eine Tiefe von 0,75 m bis 2,80 m unterhalb der Bodenplatte des Nachbarn für zu gering, um die Voraussetzungen des § 905 Satz 2 BGB zu bejahen.6 Laut BGH sind Versorgungsleitungen auch in einer Tiefe von 2 m noch dazu geeignet, die bauliche Ausnutzbarkeit eines großen innerstädtischen Grundstücks zu berühren.7 Das OLG Stuttgart bejaht allerdings bei Stahlseilen in einer Tiefe von 5–16 m und Betonankern in einer Tiefe von 13–16 m einen Duldungsanspruch nach § 905 Satz 2 BGB, da der Nachbar dann an der Ausschließung kein Interesse mehr haben könne.8 Laut LG Dortmund reicht allein die abstrakte Möglichkeit späterer Umbaumaßnahmen wie z.B. einer Unterkellerung für ein Ausschließungsinteresse des Nachbarn aus.9 Das OLG Stuttgart hingegen löst die Frage eines eventuellen künftigen Mehraufwandes des Nachbarn (wenn dieser später selbst in größerer Tiefe baut und temporäre Anker entfernen muss) mit der Zubilligung eines finanziellen Ausgleichs, mit dem etwaige künftige Erschwernisse im Voraus abgegolten werden.10 Das entspricht dem Rechtsgedanken aus § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB, der in Abwägung der widerstreitenden Interessen der Nachbarn einer ortsüblichen Grundstücksnutzung den Vorrang vor einer umfassenden nachbarrechtlichen Abwehr gibt.
Darüber hinaus kann in solchen Konfliktsituationen auch auf das Rechtsinstitut des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zurückgegriffen werden. Dieses wird als Ausprägung von § 242 BGB zum Ausgleich gegenläufiger, nicht abschließend in §§ 905 ff. BGB und den Landesnachbarrechtsgesetzen geregelter Konstellationen herangezogen.11 Eine Beschränkung oder ein Ausschluss von aus dem Eigentum fließenden Rechten oder ein Handlungs- bzw. Unterlassungsanspruch werden jedoch nur subsidiär auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis gestützt.12 Das OLG Köln etwa leitete die Pflicht des Nachbarn zur Duldung der Rückverankerung aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ab, da es im zu Grunde liegenden Fall an der erforderlichen Tiefe für § 905 Satz 2 BGB fehlte.13
b) Rechtsgrundlagen für Duldungspflichten im landesspezifischen Nachbarrecht
Auch die Nachbarrechtsgesetze der Länder regeln in Einzelfällen Zugriffsmöglichkeiten auf das nachbarliche Grundstück. Das Hammerschlags- und Leiterrecht verpflichtet nach §§ 24 ff. NachbG NRW den Nachbarn vorübergehend, ggf. gegen Nutzungsentschädigung, das Betreten seines Grundstücks, das Aufstellen von Leitern und Gerüsten sowie das Lagern von Materialien darauf zu dulden, damit der Bauherr an seinem eigenen Gebäude Arbeiten vornehmen kann.14 Nach § 16 NachbG NRW muss der Bauherr die geplanten Arbeiten vorher dem Nachbarn anzeigen.15 Ob auch der Raum unterhalb der Erdoberfläche vom Hammerschlags- und Leiterrecht erfasst wird und damit auch das Anbringen von Rückverankerungen oder Unterfangungen daraus abgeleitet werden kann, wird unterschiedlich beurteilt. Der Wortlaut des § 24 NachbG NRW lässt nur ein vorübergehendes Betreten und Benutzen des Nachbargrundstücks zu. Der erlaubte Nutzungsumfang aber wird teilweise weit verstanden und sogar die Duldung des zu einer Grenzwanderrichtung erforderlichen Aushebens einer Baugrube darunter gefasst.16 Von diesem weiten Begriffsverständnis ausgehend wird in der Literatur vereinzelt der Rückschluss gezogen, dass auch die Rückverankerung einer auf dem eigenen Grundstück errichteten Bohrpfahlwand über das Hammerschlags- und Leiterrecht gestattet sein müsse.17 Nach überwiegender Rechtsprechung der Oberlandesgerichte hingegen gewährt dieses Recht lediglich die oberirdische Benutzung des Nachbargrundstücks,18 kann damit also nicht als Rechtsgrundlage für Rückverankerungen oder Unterfangungen herangezogen werden.
3. Interessenabwägung als gesetzliches und wertendes Tatbestandsmerkmal
Dem Baugrundstück in einem bestimmten Baugebiet wohnt nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Recht, teilweise sogar die öffentlich-rechtliche Pflicht inne, dieses in einer bestimmten Art und Weise, etwa grenzständig, zu bebauen. Ein innerstädtisches Baugrundstück ist immer auch durch die Umgebungssituation geprägt, wie dies auch im Mietrecht anerkannt ist.19 Ein Nachbar muss bei geschlossener Bauweise grundsätzlich immer die Möglichkeit einer Bautätigkeit im Grenzbereich in Betracht ziehen. Damit einher geht auch eine Wahrscheinlichkeit, dass sein Grundstück betroffen sein könnte, sobald dort Baulichkeiten verändert oder neu ausgeführt werden. Ein Nachbar kann nicht erwarten, dass der Bauherr von der Ausnutzung seines Grundstücks in sonst üblichem Maße absieht, um die Sphäre des Nachbarn zu schonen.20 Folglich stellt sich in diesen Situationen regelmäßig die Frage nach dem richtigen Ausgleich im grenzspezifischen Interessenwiderstreit. Die bloße Möglichkeit einer anderen Art der Bauausführung ist dabei kein taugliches Argument für das Verneinen eines Duldungsanspruchs, da es nachbarrechtlicher Duldungsansprüche gar nicht erst bedürfte, wenn kein grenzspezifischer Interessenwiderstreit entstanden wäre.21 Vielmehr gilt es, das Eigentumsrecht des Bauherrn und das Eigentumsrecht des Nachbarn unter Beachtung der baulichen Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Welche Maßstäbe dabei anzulegen sind, ist zu diskutieren. Für das Hammerschlags- und Leiterrecht sind in § 24 Abs. 1 Nr. 1 und 2 NachbG NRW Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit als Prinzipien ausdrücklich kodifiziert.22 Auch bei der Argumentation über § 905 Satz 2 BGB wird auf die Unzumutbarkeit oder technische Unzweckmäßigkeit der Alternativmaßnahme bzw. die damit verbundenen unverhältnismäßig hohen Mehrkosten für den Bauherrn abgestellt.23 Der rein finanzielle Vorteil des Bauherrn bei Durchführung der geplanten Baugrubensicherung soll jedoch zur Begründung einer Duldungspflicht des Nachbarn nicht ausreichen.24 Was aber bei grenzübergreifender Inanspruchnahme für den beeinträchtigten Nachbarn unzumutbar bzw. im Sinne des erstrebten Zwecks unverhältnismäßig ist, bleibt unklar. Ein technischer und damit auch wirtschaftlicher Mehraufwand des Bauherrn lässt sich nicht allgemeingültig gegenüber dem Wunsch des Nachbarn nach Unberührtheit seines Eigentums abwägen. Bei den Mehrkosten von nachbarschonenden Alternativmaßnahmen wird ein grobes Missverhältnis für erforderlich gehalten, teilweise erst eine Verdopplung der Kosten für unzumutbar angesehen.25 Diese Grenzen scheinen allerdings willkürlich gewählt und lassen sich aus dem Gesetz auch nicht ableiten. Gerade bei sehr großen Bauvorhaben kann eine Verdopplung der Kosten kein geeigneter Maßstab sein. Die Fokussierung auf eine besonders hohe wirtschaftliche Belastung des Bauherrn als Schlüssel zu einer Duldungspflicht des Nachbarn birgt die Gefahr einer argumentativen Schieflage. Warum soll erst eine besonders hohe wirtschaftliche Belastung des Bauherrn erforderlich sein, um diesem eine bautechnisch und wirtschaftlich sinnvolle Lösung unter vorübergehender Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks zu ermöglichen? Eine gute und technisch vernünftige Lösung (mit Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks) ist nicht besser oder schlechter, weil den Nachbarn schonende technische Alternativen mehr oder weniger teuer sind. Die Statuierung finanzieller Unzumutbarkeitsgrenzen beim Bauherrn ist nicht interessengerecht. Vielmehr sollte bei der Abwägung der widerstreitenden Eigentümerinteressen der Mehraufwand für nachbarschonende Alternativmaßnahmen ins Verhältnis zur Beeinträchtigung des Nachbarn im Falle der Wunschlösung des Bauherrn gesetzt werden. Eine hohe Kostenbelastung des Bauherrn (z.B. zur Vermeidung einer Rückverankerung) ist meist nicht verhältnismäßig, wenn man berücksichtigt, wie wenig der Nachbar häufig durch Maßnahmen unterhalb seiner Bestandsbebauung tatsächlich beeinträchtigt wird. Das gilt erst recht, wenn man dem Nachbarn im Rahmen des angestrebten Interessenausgleichs als Kompensation für die Inanspruchnahme seines Eigentums eine angemessene Ausgleichszahlung zubilligt.26 Die zeitlichen und kostenmäßigen Nachteile des Bauherrn bei (unrechtmäßiger) Duldungsverweigerung übersteigen damit in den meisten Fällen das Interesse des Nachbarn an der „Unversehrtheit“ seines Grundstücks um ein Vielfaches.
Zudem muss das Interesse des Bauherrn an einer sinnvollen, dauerhaften Nutzung seines Eigentums in der Regel Vorrang haben vor der Abwehr einer nur vorübergehenden, für den Nachbarn vielleicht nicht einmal wahrnehmbaren Beeinträchtigung. Angeführt werden kann in bestimmten Fällen auch das öffentliche Interesse an der zügigen und kostengünstigen Durchführung eines genehmigten Bauvorhabens im Sinne der Milderung der innerstädtischen Wohnungsnot.27 Das OLG Stuttgart verweist insoweit auch auf den Gedanken der Sozialbindung des Eigentums.28 Damit werden – zurückhaltend – auch sozialpolitische, öffentliche Zwecke in die Interessenabwägung miteinbezogen.