Am 14. Mai 2020 verhandelte der BGH (VII ZR 174/19) über die Frage, inwieweit die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze trotz des EuGH-Urteils vom 4. Juli 2019 anzuwenden sind. Statt eine Entscheidung zu treffen, legten die Karlsruher Richter dem EuGH drei Fragen zur Vorabentscheidung vor. „Juristisch absolut nachvollziehbar“, sagt Rechtsanwalt Prof. Dr. Heiko Fuchs. Im Interview interpretiert der Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht den Paukenschlag aus Karlsruhe, erläutert dessen Konsequenzen für derzeit laufende Verfahren und stellt Überlegungen dazu an, wie die Entscheidung letztlich ausfallen kann.
Herr Prof. Fuchs, am 14. Mai sollte der BGH über die Anwendbarkeit der HOAI entscheiden. Das ist so nicht geschehen. Was ist passiert?
Kern des Streits ist die Frage, inwieweit die nationalen Gerichte nach dem EuGH-Urteil vom 4. Juli 2019 weiterhin verpflichtet sind, die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze der HOAI zu beachten, oder ob diese in § 7 HOAI geregelten Sätze als unverbindlich behandelt werden müssen. Konkret stehen die sogenannten Aufstockungsklagen im Fokus. Basierend auf einer ansonsten (insbesondere form-) wirksamen Honorarvereinbarung unterhalb des Mindestsatzes begehrt der Architekt oder Ingenieur eine nachträgliche Aufstockung seines Honorars auf den in der HOAI geregelten Mindestsatz. Bisher haben die Instanzgerichte dazu höchst unterschiedlich geurteilt. Der BGH sollte nun eine Grundsatzentscheidung treffen.
Dazu kam es nicht. Der BGH hat die Entscheidung ausgesetzt und stattdessen ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt. Warum?
Für die Praktiker ist das natürlich ein Drama, für den Juristen, der sich intensiv damit beschäftigt hat, ist das aber total nachvollziehbar. Der EuGH ist verantwortlich für die Auslegung des Unionsrechts und das Verhältnis einer Richtlinie zum nationalen Recht. Und allein darum geht es. Der BGH tendiert nach eigenen Angaben dazu, dass der verbindliche Preisrahmen der HOAI weiter anwendbar bleibt, bis der Gesetzgeber handelt und die HOAI ändert. Andere Stimmen in der OLG-Rechtsprechung und in der Literatur vertreten eine andere Auffassung, die man nicht ignorieren kann. Es liegen also entscheidungsrelevante Zweifelsfragen insbesondere zur Auslegung des Europarechts vor, und die darf der BGH gar nicht entscheiden, sondern muss sie vielmehr dem EuGH zur Klärung vorlegen. Juristisch bestand also gar keine andere Möglichkeit. Wenngleich auch der Vorsitzende Richter in der mündlichen Verhandlung gesagt hat, dass ihn die Vehemenz, mit der die Oberlandesgerichte ihre jeweilige Rechtsauffassung vertreten, doch überrascht. Denn die Rechtslage ist eben überhaupt nicht klar.
Es bleibt also weiterhin unklar, wie mit den hunderten anhängigen und den vielen in Vorbereitung befindlichen Aufstockungsklagen umzugehen ist. Wie lange müssen die Beteiligten voraussichtlich auf Klärung warten?
Statistisch gesehen läuft ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH gut 16 Monate ab Eingang des Antrags. Ausgehend davon, dass der Antrag Ende Mai eingereicht wird, kann man sich schnell ausrechnen, wie lange eine Entscheidung auf sich warten lassen wird. Der EuGH ist sich glaube ich schon bewusst, was er hier in Deutschland losgetreten hat, und dem Vernehmen nach wird man versuchen, das Verfahren zu beschleunigen. Aber machen wir uns nichts vor: ein Jahr wird es auf jeden Fall dauern.
Was raten Sie den Kolleginnen und Kollegen, die derzeit in laufenden Verfahren stecken? Auf welche Strategie sollten sie setzen?
Das kommt natürlich darauf an, welche Seite ich vertrete (lacht). Wenn ich der Auftraggeber bin, würde ich jetzt auf jeden Fall Aussetzung des Verfahrens analog § 148 ZPO beantragen. Das hat der BGH erst kürzlich in anderem Zusammenhang entschieden: ein Vorabentscheidungsverfahren eines anderen Gerichts, dass die gleiche Rechtsfrage betrifft, ist ein Aussetzungsgrund im Sinne der ZPO. Als Auftragnehmer-Vertreter ist die Situation ungleich schwieriger, denn schließlich will man seine Forderungen schnellstmöglich durchsetzen. Da könnte man natürlich vortragen, dass der BGH für das nationale Recht quasi klargestellt hat, dass er die derzeitige HOAI weiter anwenden will. Daher würde ich als Architektenvertreter immer erst auf eine Entscheidung des Instanzgerichts drängen und dann weiter durch die Instanzen gehen. Wenn dann am Ende der BGH meint, er müsse vorlegen oder aussetzen, dann kann er das ja machen. Nach dem aktuellen Schritt des BGH wird sich ein Instanzgericht allerdings kaum darauf einlassen, sondern sehr wahrscheinlich aussetzen. Wie auch immer: Sowohl Auftraggeber als auch Auftragnehmer werden abwarten müssen.
Die zuständigen Ressorts der Bundesregierung arbeiten nach dem EuGH-Urteil vom 4. Juli 2019 ja bereits an einer Neufassung der HOAI, die für diesen Sommer erwartet wird. Wird dadurch mehr Klarheit entstehen?
Die Novellierung ist längst überfällig. Normalerweise hat der Gesetzgeber ein Jahr Zeit, Vorgaben aus Luxemburg in nationales Recht umzuwandeln. Der 4. Juli ist schon in Sicht und bis dahin wird das wohl nicht mehr klappen. Wahrscheinlich wird die Kommission eine Corona-bedingte Fristverlängerung gewähren, aber im Laufe des Jahres sollte da schon was passieren. Danach – voraussichtlich im Spätherbst 2020 – wird auf jeden Fall mehr Klarheit herrschen, jedenfalls für alle Verträge, die nach in Kraft treten des novellierten Preisrechts geschlossen werden. Für alle anderen gilt weiterhin das „honorarrechtliche Interregnum“ (Seifert NZBau 2020, 207), die herrschaftslose Zeit (lacht).
Der BGH hat dem EuGH drei Vorlagefragen gestellt. Es gab aber noch eine vorgelagerte Frage. Worum ging es da?
In der Tat hat der BGH in seinem Beschluss vom 14. Mai noch eine ‚Vorfrage‘ beantwortet, die sich bei Konflikten des nationalen mit dem europäischem Recht immer als erstes stellt: Sieht sich das nationale Gericht in der Lage, die Vorgabe – hier die HOAI – richtlinienkonform auszulegen? Der VII. Zivilsenat des BGH sagte nun klar: Nein!
Ebenso restriktiv sah dies auch der XI. Zivilsenat in einem erst kürzlich veröffentlichten Beschluss in anderer Sache. Auslegungsgrenze ist immer der Wille des nationalen Gesetzgebers – und der habe im Fall der HOAI unbedingt am verbindlichen Preisrahmen festhalten wollen. Das kann man auch anders sehen, weil sich der Verordnungsgeber seit der HOAI 2009 ausdrücklich richtlinienkonform verhalten wollte, es eben nur nicht getan hat. Doch der BGH hat diese ‚Vorfrage‘ eindeutig beantwortet, und dazu wird auch der EuGH nichts weiter mehr sagen. Nun ist der Gesetzgeber am Zug.
Die erste der drei Vorlagefrage lautete: Ist die Dienstleistungsrichtlinie in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbar anwendbar, in dem die Geltung des verbindlichen Preisrahmens gem. § 7 HOAI im Streit steht? Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Aus meiner Sicht gibt es nur eine Antwort darauf: Ja, sicher! Das habe ich immer wieder betont, unter anderem bei der 54. Baurechtstagung. Denn letztlich konkretisiert die Dienstleistungsrichtlinie nur die Niederlassungsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Europarechts, und in diesen Fällen erkennt der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung ausnahmsweise durchaus an. Im Gegensatz zu mir neigt der BGH nach eigenen Angaben allerdings dazu, keine unmittelbare Wirkung anzunehmen. Warum er zu dieser Einschätzung kommt, dazu hat sich der BGH in der Verhandlung noch nicht klar geäußert. In der mündlichen Begründung des Vorsitzenden fanden sich vor allem allgemeine Grundsätze, die ich alle unterschreibe. Man habe auch Ausnahmefälle geprüft und verneint, nennt aber keine Details. Da werden wir wohl auf den Volltext zu der Entscheidung warten müssen.
Kommen wir zur Frage 2a: Falls nein, verstößt dieser Preisrahmen gegen die in Art. 49 AEUV kodifizierte Niederlassungsfreiheit?
Der EuGH hatte das am 4.7.2019 zwar ausdrücklich offen gelassen. In der europarechtlichen Literatur bestehen aber eigentlich keine Zweifel, dass die Dienstleistungsrichtlinie die Niederlassungsfreiheit konkretisiert, ein Verstoß gegen die Richtlinie daher automatisch auch einen Verstoß gegen Art. 49 AEUV darstellt. Spannender ist die Frage, was daraus folgt.
Das bringt uns direkt zur Vorlagefrage 2b: Falls ja, folgt dadurch auch für eine unter privaten Inländern geführte Aufstockungsklage zur Unanwendbarkeit des § 7 HOAI? Was meinen Sie?
Diese Frage würde ich mit ‚ja‘ beantworten. Bislang war der EuGH zwar immer so zu verstehen, dass die Grundfreiheiten nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gelten. Aber der verbindliche Preisrahmen aus Höchst- und Mindestsatz nach § 7 HOAI ist ein gesetzliches Verbot, Honorarvereinbarungen außerhalb dieses Rahmens zu schließen. Daher entschied das OLG Düsseldorf kürzlich, dass, wenn in Deutschland die Niederlassungsfreiheit von EU-Ausländern durch nationale Vorschriften behindert wird, immer grenzüberschreitende Sachverhalte angesprochen sind, selbst wenn im konkreten Fall ein Deutscher gegen einen Deutschen klagt. Denn der zwingende Mindestsatz schreckt EU-Ausländer von einer Niederlassung in Deutschland ab, weil sie sich nicht über den Preis einen Markteintritt schaffen können. Diese Abschreckung will die Dienstleistungsrichtlinie eigentlich verhindern, und dies scheint der BGH auch für kritisch zu halten. Das Kammergericht sieht es wieder anders und sagt, es käme immer nur auf die Parteien des zu entscheidenden Einzelfalls an. Wendet man den Preisrahmen jetzt einfach weiter an, würde Art. 49 AEUV aber letztlich leerlaufen. Offensichtlich ist hier dringend eine klärende Beantwortung durch den EuGH nötig – was wiederum den BGH in seinem aktuellen Beschluss bestätigt, Luxemburg um Vorentscheidung zu ersuchen. Wie dieser ausfällt ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch völlig offen – es sein denn, Sie können mit einer Glaskugel umgehen (lacht).
Herr Professor Fuchs, vielen Dank für das Gespräch!
Rechtsanwalt Prof. Dr. Heiko Fuchs ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und Mitglied der ARGE Baurecht.