Bedenkenhinweis schützt vor Verzugskündigung!

OLG Dresden, Urteil vom 29.06.2022 – 22 U 1689/20 BGB a.F. § 649 Satz 2; BGB § 648 Satz 2; VOB/B § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 4, § 8 Abs. 1, 3

1. Der Auftraggeber eines VOB-Vertrags kann dem Auftragnehmer den Auftrag entziehen, wenn der Auftragnehmer den Beginn der Ausführung verzögert oder mit der Vollendung in Verzug gerät und eine gesetzte angemessene Nachfrist zur Vertragserfüllung fruchtlos abgelaufen ist.
2. Der Auftragnehmer gerät nicht in Verzug, wenn er einer Weisung des Auftraggebers nicht folgt, die seine geltend gemachten Bedenken treuwidrig nicht berücksichtigt.
3. Treuwidrig ist eine Anweisung, wenn danach die Leistungen auf eine gegen den Bauvertrag und gegen die Regeln der Technik verstoßende Weise erbracht werden soll, ohne dass eine Freistellung von der Gewährleistung erfolgt. Der Auftragnehmer muss sich keinen Gewährleistungsfall nicht absehbaren Ausmaßes aufzwingen lassen.
4. Dem Auftragnehmer steht ein Leistungsverweigerungsrecht zu, wenn er dem Auftraggeber nicht nur ordnungsgemäß seine Bedenken mitgeteilt hat, sondern wenn die Prüfung dieser Bedenken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ergebnis hat, dass die vom Auftraggeber vorgesehene Art der Ausführung zum Eintritt eines erheblichen Leistungsmangels oder eines sonstigen nicht nur geringfügigen Schadens führen wird.
5. Die Beweislast für die Treuwidrigkeit der Anweisung des Auftraggebers liegt beim Auftragnehmer.

OLG Dresden, Urteil vom 29.06.2022 – 22 U 1689/20

BGB a.F. § 649 Satz 2; BGB § 648 Satz 2; VOB/B § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 4, § 8 Abs. 1, 3

Problem/Sachverhalt

Der mit Fassadenreinigungsrabeiten beauftragte Auftragnehmer (AN) meldet Bedenken an, weil die Fassade teilweise nicht mehr intakt ist und das vorgesehene Hochdruck-Heißwasserstrahlen nur bei einer geschlossenen Putzfläche zulässig ist. Es kommt zum Streit mit dem Auftraggeber (AG), der die ausgeschriebene Leistung für geeignet hält, um den angestrebten Erfolg herbeizuführen. Er weist den AN an, mit höherem Wasserdruck zu arbeiten. Als der AN sich darauf nicht einlässt, kündigt der AG den Vertrag. Der AN verlangt die vereinbarte Vergütung abzüglich ersparter Aufwendungen i.H.v. 35.000 Euro.

Entscheidung

Dem Grunde und teilweise der Höhe nach mit Erfolg! Der AG war nicht berechtigt, den Vertrag wegen eines Verzugs des AN mit der Leistungserbringung zu kündigen. Denn der Auftragnehmer gerät nicht in Verzug, wenn er einer Weisung des Auftraggebers nicht folgt, die seine geltend gemachten Bedenken treuwidrig nicht berücksichtigt (siehe Leitsätze 2 bis 4). Der AN war auch deshalb nicht zur Fortsetzung seiner Leistung verpflichtet, weil der AG insoweit auf die Gewährleistung verzichtet hätte. Denn ein solcher Verzicht ist nicht erfolgt. Die Verzugskündigung war dementsprechend in eine sog. freie Kündigung umzudeuten (BGH, IBR 2003, 595).

Praxishinweis

Eine Bedenkenanmeldung schützt den AN nur vor Mängelansprüchen des AG, nicht aber vor Ansprüchen Dritter, die – trotz angezeigter Bedenken – z. B. durch eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht geschädigt werden (OLG Brandenburg, IBR 2008, 1112 – nur online). Auch kann sich der AN durch eine Bedenkenanzeige nicht von seiner Verantwortung für die Einhaltung der geltenden gesetzlichen und behördlichen Bestimmungen (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 VOB/B) befreien. Weist der AG den AN also etwa dazu an, die Treppengeländer in einem Schulgebäude entgegen einer einschlägigen (landesrechtlichen) Bauvorschrift nicht 1 m hoch, sondern nur 95 cm hoch auszuführen, muss und darf der AN diese Anweisung nicht befolgen. Gleiches gilt, wenn mit der Befolgung der Anordnung eine Gefahr für Leib und Leben verbunden ist (OLG Karlsruhe, IBR 2004, 684).

RA Dr. Stephan Bolz, Mannheim