28.02.2024 – Zahlreiche für das Werk- und Bauvertragsrecht relevante Normen gewähren erst nach Ablauf einer angemessenen Frist dem Berechtigten (Gestaltungs-)Rechte oder führen sogar zur automatischen Umgestaltung des Vertrags. Gibt es über die für die anwaltliche Praxis wenig befriedigende Standardaussage hinaus, dass es stets auf den Einzelfall ankomme, systematische Zusammenhänge, die für die Anwendung aller oder wenigstens einzelner der zitierten Normen mehr Rechtssicherheit geben?
B. § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB
I. Einleitung
Ausgangspunkt meiner nachfolgenden Überlegungen ist, dass der Zeitpunkt, zu dem die geschuldete (Gesamt-) Leistung des Unternehmers fällig wird, feststeht, überschritten ist und keine (nicht dem Unternehmer zuzurechnenden) Umstände vorliegen, die zu einer Verschiebung des Fälligkeitszeitpunkts führen. Begründen lässt sich die objektive Fälligkeit der Leistung des Unternehmers durch eine bestimmte Zeit nach dem Kalender, also einen im Vertrag enthaltenen „Fertigstellungstermin“ o.ä. Ist dieser überschritten, gerät der Unternehmer ohne Mahnung des Bestellers in Verzug (§ 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Fehlen solche vertraglichen Vorgaben, bestimmt sich anhand von § 271 Abs. 1 BGB, wann die Leistung des Unternehmers fällig wird. Nach der Rechtsprechung muss der Unternehmer im Zweifel nach Vertragsschluss mit der Herstellung alsbald beginnen und sie in angemessener Zeit zügig zu Ende führen, wobei die für die Herstellung notwendige Zeit in Rechnung zu stellen ist; mit Ablauf der angemessenen Fertigstellungsfrist tritt Fälligkeit ein. Die Beweislast dafür, dass die nach den zitierten Kriterien zu bemessende Herstellungsfrist noch nicht ablief, liegt beim Unternehmer.
Um in den nachfolgenden Überlegungen zu § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht gänzlich abstrakt zu bleiben, werde ich auf folgende Beispielsfälle zurückkommen:
Fall 1 (Rohbauarbeiten)
Variante a: Der Unternehmer schuldet den Rohbau für das Untergeschoss und drei Geschosse (Erd-, 1. und 2. Obergeschoss). Als Fertigstellungstermin ist der 01.09.2023 vereinbart, woraus sich unter Berücksichtigung der Anlaufphase nach Unterzeichnung des Vertrags für die Arbeitsvorbereitung, Baustelleneinrichtung usw. eine Bauzeit von 160 Arbeitstagen ergibt (die auch nach den Wertungen des § 271 Abs. 1 BGB auskömmlich ist). Am 01.09.2023 liegen die ansonsten abgeschlossenen Arbeiten im 2. Obergeschoss „in den letzten Zügen“; arbeitet der Unternehmer zügig an den Arbeitstagen weiter, kann er die Arbeiten (spätestens) bis zum 08.09.2023 abschließen.
Variante b: Ausgangsdaten unverändert. Allerdings ist am 01.09.2023 die Leistung nur zu etwa 50 % erbracht, sodass vorbehaltlich von Beschleunigungsmaßnahmen der Unternehmer auch mit etwa erstmals zügiger Arbeitsweise noch ca. 80 Arbeitstage (50 % der vertraglich vorgegebenen Bauzeit) benötigt.
Fall 2 (Malerarbeiten)
Variante a: Der Unternehmer ist beauftragt mit Malerarbeiten in 50 etwa gleich großen Räumen eines Gebäudes. Der Unternehmer ist ein Kleinbetrieb mit dem Geschäftsinhaber und drei festangestellten Mitarbeitern. Die Ausführungsfrist gemäß Vertrag beträgt 52 Arbeitstage ab Vertragsschluss (dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Unternehmer zwei Tage zur Arbeitsvorbereitung benötigt und anschließend zwei Mann/Arbeitstag einen Raum bearbeiten und jeweils am darauffolgenden Morgen das Gerät, Materialien usw. in den angrenzenden Raum umsetzen) und endet am 01.09.2023 (über § 271 Abs. 1 BGB käme man zum selben Fälligkeitszeitpunkt). Am 01.09.2023 sind die Arbeiten in den beiden letzten Räumen noch nicht abgeschlossen.
Variante b: Ausgangsdaten unverändert. Am 01.09.2023 sind lediglich 15 Räume gestrichen; in den weiteren 35 Räumen ist noch nichts erledigt.
II. Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Bestimmung der angemessenen Frist
Durchgehend betont die höchstrichterliche Rechtsprechung, dass es nicht darum gehe, dem Schuldner zu ermöglichen, erst mit der Ausführung der Leistung zu beginnen. Schon das RG begründete das in einer immer wieder zitierten Leitentscheidung 1916 damit, dass „die Angemessenheit keineswegs nur nach den Verhältnissen des säumigen Schuldners zu beurteilen [ist], sondern [dass] vornehmlich auch die Interessen des Gläubigers zu berücksichtigen [sind]“. Daher habe die Nachfrist „nicht den Zweck, den Schuldner in die Lage zu setzen, nun erst die Bewirkung seiner Leistung in die Wege zu leiten, sondern sie soll ihm nur noch eine letzte Gelegenheit gewähren, die begonnene Erfüllung zu vollenden.“ Präziser äußerte sich der VIII. Zivilsenat des BGH 1982: „Die Nachfrist […] braucht nicht so lang zu sein, daß der Schuldner Gelegenheit hat, innerhalb der Frist seine Leistung vorzubereiten. Vielmehr ist vorauszusetzen, daß die Leistung weitgehend fertiggestellt ist und daß der Schuldner lediglich Gelegenheit erhalten soll, seine im wesentlichen abgeschlossene Leistung vollends zu erbringen […]“. Die Nachfrist dürfe nicht zu einer „Ersatzlieferungsfrist“ werden oder die Lieferfrist erheblich verlängern.
Auch wenn die Angemessenheit einer Nachfrist sich nur nach objektiven Maßstäben beurteilen könne, könne ein besonderes Interesse des Gläubigers an einer möglichst pünktlichen Erfüllung der Leistungspflicht zu berücksichtigen sein. Daher wird vom Schuldner u.a. erwartet, sämtliche vorhandenen Mittel einzusetzen, um die Nachfrist einzuhalten. Nicht könne sich der Schuldner darauf berufen, es seien Schwierigkeiten z.B. mit der Zulieferung aus dem Ausland aufgetreten oder zu befürchten, wenn er dies von Anfang an – vor Abschluss des Vertrags – habe berücksichtigen können und müssen.
Besonderheiten des jeweiligen Gewerbezweigs seien jedoch zu berücksichtigen. Großzügig zeigte sich der BGH im Hinblick auf „Besonderheiten des Kraftfahrzeughandels“ und meinte in der Kontrolle des Klauselwerks eines Kraftfahrzeughändlers, es liege auch im Interesse eines Käufers, der eine unverbindliche Lieferfrist akzeptiert habe, dass das Auto von vornherein – und nicht erst nachträglich beim Händler – in der gewünschten Ausstattung und mit der bestellten Sonderausrüstung hergestellt werde. Angesichts des breit gefächerten Angebots verschiedenartigster Ausstattungen könnten je nach den Liefermöglichkeiten der Zulieferanten Verzögerungen in der Fertigstellung des Autos auftreten. Daher hatte der BGH keine Bedenken gegen eine AGB des Schuldners (Verkäufers), wonach der Gläubiger (Käufer) erst sechs Wochen nach Überschreitung eines unverbindlichen Liefertermins den Verkäufer schriftlich auffordern könne, binnen angemessener Frist zu liefern, und erst mit dieser Mahnung der Verkäufer in Verzug gerate.
Zulasten des Schuldners wird gewürdigt, wenn er sich bereits länger in Verzug befindet und mehrfach gemahnt wurde; je länger der Schuldner sich in Verzug befinde, desto kürzer dürfe die Nachfrist bemessen werden.
Angesichts der Aufgabe des BGH als Revisionsgerichts, lediglich nachprüfen, ob der Tatrichter zutreffende rechtliche Maßstäbe zugrunde legte, während die Beurteilung der Angemessenheit grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten ist, finden sich in den meisten Entscheidungen keine konkrete Angaben, welche Frist im Einzelfall aus Sicht des BGH angemessen ist, sondern allenfalls eine Billigung der Erwägungen des jeweiligen Berufungsgerichts. Umso erstaunlicher ist es, dass der VIII. Zivilsenat in einer Kontrolle des Klauselwerks eines Möbelhändlers andeutete, eine für alle denkbaren Fälle angemessen kurze Nachfrist möge bei einem Verbrauchergeschäft möglicherweise 14 Tage betragen.