Mindestsätze der HOAI dürfen zwischen Privaten weiter angewendet werden!

Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich Privatpersonen gegenüberstehen, ist nicht aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen.

EuGH, Urteil vom 18.01.2022 – Rs. C-261/20

AEUV Art. 49; HOAI 2013 §§ 17 Abs. 1, 3, 5; Richtlinie 2006/123/EG Art. 157

Problem/Sachverhalt

Die HOAI enthielt bis zu ihrer Fassung 2013 einen verbindlichen Preisrahmen aus Mindest- und Höchstsatz, der ein gesetzliches Verbot darstellte. Außerhalb dieses Rahmens liegende Vergütungsvereinbarungen waren nichtig und wurden durch den objektiv zutreffenden Mindestsatz (bei Unterschreitung) oder Höchstsatz (bei Überschreitungen) der HOAI ersetzt. Mit Vertragsverletzungsurteil vom 14.07.2019 (IBR 2019, 436) hat der EuGH festgestellt, dass die entsprechenden Regelungen der HOAI 2013 gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie verstoßen. Daraufhin hat der Verordnungsgeber mit der HOAI 2021 den verbindlichen Preisrahmen für alle ab dem 01.01.2021 geschlossenen Verträge abgeschafft. Hoch umstritten war aber die Frage, ob das bis dahin geltende zwingende Preisrecht nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie am 28.12.2009 oder dem EuGH-Urteil vom 14.07.2019 weiter angewendet werden durfte. In einem sog. Aufstockungsfall (der klagende Ingenieur macht den über der vereinbarten Vergütung liegenden Mindestsatz der HOAI 2013 geltend) hat der BGH (IBR 2020, 352) dem EuGH diesen Streit zur Entscheidung vorgelegt.

Entscheidung

Während der Generalanwalt, eine Art Gutachter des EuGH, noch davon ausging, dass der Mindestsatz nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht mehr als verbindlicher Preisrahmen angewendet werden durfte (IBR 2021, 523), folgt der EuGH ihm – ausnahmsweise – hier nicht. Adressat der Richtlinie sei der Mitgliedstaat, der das nationale Recht entsprechend anzupassen habe. Dem Einzelnen könne eine Richtlinie keine Verpflichtungen auferlegen. Ähnliches gelte für das Vertragsverletzungsurteil. Davon unbeschadet könne das nationale Gericht aber die Anwendung des mit der Richtlinie kollidierenden nationalen Rechts „aufgrund innerstaatlichen Rechts“ ausschließen. Schließlich könne die durch die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie in der HOAI 2009 und 2013 geschädigte Partei von der Bundesrepublik Deutschland den Ersatz des unmittelbar hierauf beruhenden Schadens verlangen.

Praxishinweis

Da der BGH die richtlinienkonforme Auslegung des § 7 Abs. 1 HOAI 2013 bereits abgelehnt hat (IBR 2020, 353), ist damit zu rechnen, dass er die Revision des Auftraggebers zurückweisen und dem Ingenieur den Mindestsatz zusprechen wird. Eine Vielzahl von derzeit ruhend gestellten oder aufgrund der unklaren Rechtslage noch nicht erhobener Aufstockungsklagen dürften nun in der Sache zur Entscheidung anstehen. Dies dürfte auch gegenüber öffentlichen Auftraggebern gelten, da sie dem Planer fiskalisch, also auf Augenhöhe, und nicht hoheitlich übergeordnet gegenübertreten. Spannend ist die Frage, ob der Auftraggeber die Differenz zwischen Vertragshonorar und Mindestsatz tatsächlich als Schadensersatz beim Bund geltend machen kann, da er nicht auf die Nichtigkeit des nationalen Rechts vertrauen durfte und es somit an der „unmittelbaren Kausalität“ fehlen könnte.

Prof. Dr. Heiko Fuchs, Mönchengladbach
RA und FA für Bau- und Architektenrecht